Das 1951 ins Leben gerufene Lindau Noble Laureate Meeting dient der Vernetzung in der Wissenschaft, anfangs zwischen Nobelpreisträgern der Kategorien Chemie, Physiologie/Medizin und Physik und Nachwuchswissenschaftlern, mittlerweile zusätzlich auch zwischen diesen und Lehrern. Nachwuchswissenschaftler („Young Scientists“) mit hervorragender Ausbildung und Empfehlungsschreiben werden von Partner-Universitäten nominiert oder können sich selbstständig bewerben und durchlaufen einen Auswahlprozess zur Teilnahme. Entsprechend wurden die in diesem Jahr teilnehmenden 21 Lehrer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz u.a. von den Bildungsministerien der Länder, dem VCI oder dem VBIO zur Teilnahme vorgeschlagen. Für sie war ein spezielles Programm aus wissenschaftlichen Vorträgen, Diskussionen mit Nobelpreisträgern und jungen Wissenschaftlern sowie Social Events zusammengestellt worden – mit dem Ziel, neue Themen und Ideen für den Unterricht zu gewinnen und Kontakte für künftige Zusammenarbeit z.B. mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen anzubahnen.
Unter den 39 Nobelpreisträgern, die am diesjährigen Meeting teilnahmen und ihre Arbeiten sowie neuere daraus resultierende Entwicklungen vorstellten, waren u.a.
- Emanuelle Charpentier, die 2020 den Nobelpreis für Chemie für ihre Arbeiten zum CRISPR-Cas9-System in Bakterien, das diesen zur Phagenabwehr dient, heute aber bereits als Werkzeug in der Gentechnik eingesetzt wird, um z.B. ein Gen oder eine beliebige andere DNA-Sequenz spezifisch an einer bestimmten Stelle auszutauschen. Derzeit leitet sie die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin.
- Christiane Nüsslein-Vollhardt, die bereits 1995 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin für ihre Arbeiten zur Steuerung der Embryonalentwicklung bei Drosophila erhielt. Sie ist damit die erste und bislang einzige weibliche deutsche Nobelpreisträgerin, die die Auszeichnung in den Natur- und Lebenswissenschaften erhielt.
- Rolf Zinkernagel, der 1996 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin für seine Arbeiten zur Erkennung von virusinfizierten Zellen und Tumorzellen durch Zellen des Immunsystems. Hierfür wird virales oder verändertes Tumorantigen in einem MHC-Molekül auf der Zelloberfläche „präsentiert“, so dass diese Kombination aus eigenem MHC-Molekül und fremdem bzw. verändertem Antigen durch den T-Zell-Rezeptor von zytotoxischen T-Zellen erkannt und die so erkannte Zelle eliminiert werden kann.
- Harold Varmus, der 1989 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin für seine Arbeiten zur Entdeckung zellulärer „Proto-Onkogene“ als Ursprung für virale Onkogene, die bekanntermaßen Krebs verursachen können.
Next Generation Science – Emerging Technologies
Neben Arbeiten der Nobelpreisträger wurden von den Nachwuchswissenschaftlern unter der Rubrik „Next Generation Science“ aktuelle und potenziell bahnbrechende Forschungsansätze präsentiert. Hierzu zählt z.B. die Arbeit von Adrian Gottschlich. Die Behandlung von Erkrankungen, wie Krebs, die bis heute schwer zu behandeln oder gar unheilbar sind, sind häufig multifaktoriell, d.h. viele Komponenten beeinflussen Entstehung und Verlauf der Erkrankung. Gemeinsam ist, dass auf dem Weg zur Entstehung von Krebs viele Kontrollmechanismen durch Mutationen ausgeschaltet werden, die Krebs normalerweise verhindern. Da Mutationen zufällig erfolgen, weist jeder Patient gewissermaßen seine eigene Historie an Mutationen auf, die aber letztlich dazu führen, dass Zellvermehrung unkontrolliert abläuft. Somit läuft die Behandlung auf eine individualisierte Therapie hinaus.
In diesem Zusammenhang stehen die CAR-T-Zellen (Chimeric Antibody Rezeptor T cells). Dies sind T-Zellen, die einem Patienten entnommen und gentechnisch verändert wurden, so dass sie nun einen Rezeptor enthalten, der sonst von B-Zellen hergestellt wird, einem Antikörper. Dr. Adrian Gottschlich hat den Ansatz vorgestellt, zunächst geeignete Antigene aus über 500.000 Einzelzellen von 15 Patienten mit AML (Acute Myeloid Leukemia) und Geweben von 9 gesunden Individuen einen Transkkriptions-Atlas für AML herzustellen, um letztlich Ziel-Antigene zu vorherzusagen, die nur auf diesen Tumorzellen, nicht aber auf gesunden Zellen des gleichen Zelltyps (B-Zellen) oder anderen Zellen (T-Zellen) vorkommen. Hierbei wurden unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz schließlich zwei Kandidaten (CSF1-R und CD86) identifiziert, gegen welche dann spezifische Antikörper entwickelt wurden. Deren Code wurde dann mit dem Code für den konstanten Teil des T-Zell-Rezeptors zu einem CAR-T-Zell-Rezeptor fusioniert. Erste Experimente mit solchen CAR-T-Zellen in einem Tiermodell für AML waren erfolgreich, d.h. Tumorgewebe wurde zerstört, anderes nicht. Jetzt soll der Ansatz in ersten Heilversuchen am Menschen getestet werden.
Joel Rurik hat CAR-T-Zellen zur Behandlung von Fibrose bei Herzerkrankungen eingesetzt. Dabei wurden die CAR-T-Zellen nur vorübergehend in vivo, also im lebenden Organismus, hergestellt, indem bestimmte Ziel-T-Zellen mit mRNA in Lipid-Nanopartikeln beschickt wurden. Solche T-Zellen konnten dann chimäre Antikörperfragmente auf ihrer Oberfläche bilden, die gegen bestimmte fibrotische Zellen gerichtet waren und diese damit abtöten konnten. In einem Mausmodell für Herzversagen konnte gezeigt werden, dass die CAR-T-Zellen tatsächlich vorübergehend gebildet wurden und dass diese auch tatsächlich die Fibrose abbauen und normale Herzfunktion dadurch wieder hergestellt werden konnte. Erste Einsätze beim Menschen sind in Vorbereitung.
In dem diesjährigen Heidelberg-Vortrag zeigte Shwetak Patel das Aufkommen von Mobiltelefonen und Wearables für die Gesundheit auf. So lassen sich die dort standardmäßig verbauten Sensoren, wie Mikrofone, Kameras, Beschleunigungssensoren, Umgebungslicht-Sensoren, kapazitiver Touchscreen, Temperatursensoren etc., in Kombination mit künstlicher Intelligenz auf verschiedene Weise z.B. in einer Hämoglobin-App zur Bestimmung von Hämoglobin verwenden. Dabei wird der Finger auf Kamera und Lichtquelle gelegt, und über Durchstrahlung des Fingers und Reflexionen darin kann der Hämoglobingehalt bestimmt werden, ohne dass eine Blutabnahme erforderlich ist. Die Hb-App funktionierte mit vergleichbarer Qualität wie ein komplexes klinisches Gerät, das ebenfalls Hämoglobin misst, allerdings anhand von Blut, das zunächst abgenommen werden muss. Gleichfalls lassen sich Größen, wie Puls, Atemfrequenz, die Körpertemperatur mit entsprechenden Apps unter Verwendung anderer Sensoren bestimmen.
Solche Anwendungen ermöglichen eine Selbstüberwachung und in Anbetracht der Tatsache, dass derzeit 7 Mrd. Menschen ein Smartphone besitzen, auch eine gewisse Demokratisierung der Gesundheitsvorsorge. Zudem ermöglichen sie eine kontinuierliche Überwachung, wohingegen herkömmliche Arztbesuche immer nur Momentaufnahmen liefern. Dies ermöglicht eine proaktive Gesundheitsvorsorge jedes Einzelnen, ggf. gekoppelt mit geeigneten Hinweisen, die eine entsprechende App bei bestimmten Zuständen erteilt.
Diese kurze Auswahl an Themen zeigt das Ausmaß und Geschwindigkeit der Veränderungen im Bereich der Life Sciences. Sie unterstreicht auch, dass Forschung heute nur noch in großen Teams und interdisziplinär stattfinden kann. Die Ergebnisse, gerade auch die jüngsten hier vorgestellten, zeigen große Chancen u.a. für das Gesundheitswesen aber auch die Grundlagenforschung auf. Gleichermaßen kommen mit neuen Chancen aber auch neue Risiken auf, die in Kenntnis der Grundlagen zu bewerten und geeignet zu minimieren sind. Die Sensibilisierung dafür beginnt bereits in der Schule.
Dr. Stefan Bläß